Brief an Sir William Wilde (15. Juni 1875, Poststempel Florenz)
Heute früh San Lorenzo besucht, das im üblichen Florentiner Stil angelegt ist, kreuzförmig: ein langes Hauptschiff, von griechischen Säulen getragen: eine prunkvolle Kuppel in der Mitte, davon abzweigend drei kurze Kreuzflügel. Dahinter die beiden Kapellen der Medici. Die erste, die Grabkapelle, ist prächtig, ungeheuer hoch, achteckig angelegt. Die Wände sind vollständig aus prunkvollen Marmorblöcken errichtet, mit verschiedenen eingelegten Mustern, verschiedenfarbig und spiegelglatt poliert. In sechs Nischen stehen sechs mächtige Sarkophage aus Granit und Porphyr“: jeder trägt ein Kissen aus Mosaikarbeit und darauf eine goldene Krone. Ober den Sarkophagen Statuen der Medici aus Goldbronze; in der Kuppel selbstverständlich Fresken und vergoldetes Schnitzwerk.
Die zweite Kapelle Ist sehr klein und aus schlichtem weißem Marmor. Darin die Mausoleen zweier großer Mediceer; eines trägt Michelangelos Statuen «Nacht» und «Tag» und das andere «Abend» und «Morgendämmerung».
Dann in die Biblioteca Laurenziana im Kloster von San Lorenzo gegangen, wo mir wundervoll illuminierte Messbücher und unleserliche Manuskripte und Originalhandschriften gezeigt wurden. Auffallend die äußerste Klarheit der Initialen in den italienischen Messbüchern und Bibeln, ganz anders als die Anfangsbuchstaben im Bock of Kells etc., die alles bedeuten können. Die frühen Illuminationen sind in Empfindung und Ausführung sehr schön, die späteren dagegen bloße handwerkliche tours de force geometrischen Geschnörkels und absurder Gestaltung.
Dann ins Etruskische Museum, das in dem säkularisierten Kloster San Onofrio untergebracht und sehr interessant ist. Zuerst kommt man an ein großes Grab, das aus Arezzo herübergeschafft wurde; zyklopische Quadern, Türumrahmung mit schrägstehenden Pfeilern und oblongem Türsturz, Dach leicht konisch, Wände mit wunderbar schönen Fresken bedeckt, die darstellen, wie die Seele in Gestalt eines nackten jungen Mannes von einem schönbeschwingten Engel oder Genius zu dem zweispännigen Wagen geleitet wird, der sie nach Elysium bringen soll – dann das Festmahl, das sie dort erwartet. Dieser Gedanke von der Auferstehung nach dem Tode bildet den Angelpunkt der etruskischen Kunstauffassung. Einige besonders schöne Sarkophage habe ich schlecht und recht für Dich abgezeichnet. Obenauf die Figur des oder der Toten, die auf einem Teller den Obolus für den Fährmann bereithält, der sie über den Styx setzen soll. Auch absonderliche Krüge mit Köpfen und Armen – Urnen natürlich -, ich habe sie gezeichnet. Die Sarkophage, über einhundertfünfzig an der Zahl, messen etwa zweieinhalb Fuß in der Länge und etwa drei Fuß in der Höhe. In die Seitenflächen der Sarkophage sind die Taten und Abenteuer des Toten eingemeißelt, meist als – manchmal farbiges – Basrelief. Einige trugen statt der Reliefs vollendet schöne Fresken. Selbstverständlich Urnen und Vasen in jeder denkbaren Form und alle kunstvoll bemalt.
Eine große Münzsammlung, angefangen von dem alten as, einem stattlichen einpfündigen Metallfladen von der Größe eines Milchbrots – bei dem auf der einen Seite ein Schiff und auf der anderen ein zweigesichtiger Janus eingeprägt ist ‑ bis hin zu winzig kleinen Goldmünzen, ähnlich wie die goldenen Fünf-Francs-Stücke. Die Goldschmiedearbeit übertraf an Formschönheit und an Feinheit in der handwerklichen Ausführung alles, was ich je gesehen habe. Da mich ein heftiges Gewitter lange Zeit im Museum festhielt, fertigte ich von einigen Münzen Zeichnungen an, die ich Dir schicke. Natürlich kann ich nicht die wunderbare Eleganz und handwerkliche Vollendung wiedergeben, nur das Münzbild. Becher und Schalen aus Jaspis und alle Arten durchsichtiger Schmucksteine – glasierte Krüge in Hülle und Fülle. Schwerter in Blattform, Männer-Halsketten mit ebenfalls blattähnlichen Angehängen. Handspiegel aus Metall und Hausgerät aller Art, und jedes Stück, selbst der gewöhnlichste Teller oder Krug, mit der größten Feinheit ausgeführt und von erlesener Form. Künstlerische Sensibilität und Begabung müssen diesem Volk in größtem Maße zu eigen gewesen sein. Es gibt auch ein Museum für ägyptische Altertümer, die Geräte und Fresken dort erschienen mir jedoch grotesk und plump nach der reinen Schönheit und Empfindsamkeit der etruskischen Kunst. Du hättest Dich bestimmt sehr für die etruskischen Arbeiten interessiert: ich habe zwei köstliche Stunden dort verbracht.
Zum Abendessen ging ich in ein Restaurant oberhalb von San Miniato, die Luft köstlich klar und kühl nach dem Gewitter. Auf dem Rückweg begegnete mir direkt gegenüber vom Palazzo Pitti ein eindrucksvoller Leichenzug; eine lange Prozession fackeltragender Mönche, alle in Weiß mit langen Leinenkapuzen über dem Gesicht – man sieht nur die Augen. Sie trugen zwei Särge und sahen aus wie diese schrecklichen Mönche auf bildlichen Darstellungen der Inquisition.
Mahaffy ist noch nicht aufgetaucht. Ich hoffe sehr, dass er heute kommt, denn ich kann nicht länger hier bleiben. Heute ist der Geburtstag Michelangelos: es werden große Feten stattfinden.
Hoffentlich wird Abbotstown jetzt besser aussehen. Es hat wirklich die ganze Gegend verschandelt, und man wird wohl eine Brücke über diesen abscheulichen breiten Graben schlagen, der uns von Abbotstown trennt.
Dein Dich stets liebender
Oscar O’F. W. Wilde