Elegante Linienschönheit
Die Neue Kunst, Art nouveau, fand auf dem Gebiet der Malerei und Graphik die besten und schönsten Anwendungsmöglichkeiten. Gerade die Neigung zu ornamentaler Abstraktion, zu dezenter, transparenter Farbigkeit, zu Eleganz, Überraschungseffekten, zum Geschmackvoll Elitären ließ sich durch die neue fließende, dekorative Linienkunst befriedigen. Paris war die Hochburg des Neuen Stils und einer optimistischen, oft auch frivolen Lebensfreude. Die schöne, junge, begehrenswerte und verführerische Frau wurde zum Ideal. Die Erotik des Rokoko, die bereits das Ende des hochkultivierten 18. Jahrhunderts – kurz vor der Französischen Revolution bestimmt hatte, lebte nun am nächsten Fin de Siécle erneut im modernen Stil wieder auf, um dann in den Stürmen des Ersten Weltkriegs wiederum unterzugehen. Der französische Maler Henri de Toulouse-Lautrec (1864 -1901), ein durch Unfälle verkrüppelter Graf, wurde zur höchsten Verkörperung dieser Epoche. Er wurde in Paris von akademischen Lehrern ausgebildet und wandte sich bald vorwiegend der Graphik zu, da er ein genialer, treffsicherer Zeichner war. Als Mitarbeiter an elitären Kunstzeitschriften wie Revue Blanche fand er Beachtung, doch vor allem faszinierte ihn das neue Medium des Plakats, das er zur hohen Kunst erhob, Paris war um 1900 vom Vergnügungstaumel ergriffen, es war die europäische Hauptstadt der Lebenslust. Rings um Montmartre gab es die verschiedensten, berühmten Singspielhallen, Theater und Nachtclubs, die von einem internationalen Publikum aufgesucht wurden. Hier fühlte sich der vom Leben benachteiligte Graf als unermüdlicher Beobachter zuhause. Fasziniert zeichnete er auf, was er an Schönheit, Eleganz, Verführung und Zurückweisung sah. Sein Plakat für den Divan Japonais in Paris entstand 1892. In typischer, raffinierter Stilisierung lud diese Reklame zum Besuch eines eleganten Nachtclubs ein, in dem die volkstümliche Sängerin Yvette Guilbert ihre Chansons vortrug. Ein mitreißender Rhythmus bringt alle Linien zum Schwingen und lässt die Körper vergessen. Entscheidende zum Exotischen, Raffinierten, Niegesehenen kam die geheimnisvolle fernöstliche Kunst entgegen. Der Jugendstil übernahm als Erbe des dem momentanen Eindruck und den Oberflächenreizen verfallenen Impressionismus die Neigung zu schönen Oberflächen und Umrissen, geschmackvoll abgestimmtem Farbtönen, verführerischen Stimmungen. Neu und fortschrittlich war dagegen seine Zuwendung zur dynamischen Linie, zum dekorativen Ornament, zur artistischen Abstraktion. In ihrer vollkommensten Ausprägung war diese Neue Kunst vor allem für die Avantgarde der Künstler und Kenner geeignet.
Einer jüngeren Generation gehörte der französische Maler und Zeichner Jacques Villon (1875-1963). Für war seit den Neunzigerjahren in Paris als Illustrator für Zeitschriften vielseitig tätig. Sein Plakat Le Grillon von 1899 setzte den Stil von Toulouse-Lautrec kräftig und eigenwillig fort. Die Verbindung von figürlicher Zeichnung, die ornamental stilisiert wird und einer modernen, dynamisch federnden Schrift ist typisch. Aufschlussreich ist, dass dieser Art-nouveau-Frühstil für Villon nur eine Durchgangsphase war. 1903 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Salon d´Automne, der sich um radikal-fortschrittliche künstlerische Lösungen bemühte, 1911 fand er Anschluss an den analytischen Kubismus.
Für viele Künstler war der Jugendstil tatsächlich nur eine entscheidende Durchgangsphase in ihrem Bestreben, zu stärkerer Abstraktion oder zu leidenschaftlicherem Ausdruck zu gelangen. Die Dynamisierung des Lebens war zu Beginn unseres Jahrhunderts ein allgemein faszinierendes Phänomen. Die neuartige Kinematographie interessierte die Künstler und das Publikum. Lebende und bewegte Bilder waren außerordentlich beliebt und wurden häufig auch in Nachtclubs und Theatern vorgeführt. Die Zeit um 1900 war tatsächlich die Epoche, „in der die Bilder laufen lernten“. Genau so wichtig waren die Motoren, die den allgemeinen Rhythmus beschleunigten und neue Dimensionen erschlossen; das Automobil kam auf und das Flugzeug. Alle Abläufe beschleunigten sich. Diesem Zeitstil entsprachen Jugendstil und Art nouveau. Als Beleg kann z. B. das Werbeplakat von Léopold Lelée für das berühmte Varietétheater Folies Bergère in Paris aus dem Jahr 1900 dienen. Dargestellt ist, wie sich als verführerische Blumenelfen kostümierte Tanzmädchen auf der Bühne vor den Augen der Zuschauer in stilisierte Lilienblüten verwandeln. Die Doppelbedeutung weiblicher Schönheit und blumenhafter Stilisierung kommt beim Jugendstil außerordentlich häufig vor. An einem solchen Plakat, das stellvertretend für unzählig viele andere jener Stilepoche steht, sind einige Charakterzüge wichtig: die gestalten biegen sich allesamt wie vom Wind bewegte Ranken und Blüten, die Gesten sind ornamental stilisiert, die lang federnde Erstreckung, der tänzerische Rhythmus sind begehrt. Ein allgemeiner Hauptstrom verzweigt sich bis in letzte Detail in welliges, gekräuseltes, flutendes Ornament. Typisch sind die Haare, Gewandfalten und Umrisse. Transparenz der Farben und Lichter wird geschätzt, der farbig bewegte Schleier, der den schönen, verführerischen Frauenkörper verbirgt und zugleich enthüllt, ist ein Ideal dieser ornamentalen Stilisierung.
Die Neigung zur Verwandlung, zum Traumhaften, die beim Art nouveau häufig auftritt und seinen Reiz ausmacht, weist auf eine latente Verwandtschaft und Vorläuferschaft zum Surrealismus hin. Körperlichkeit, Räumlichkeit, Tiefe sind kein Hauptanliegen dieses Stils. Seine Abstraktion zielt auf Steigerung der Dynamik, des schönen Eindrucks, der verführerisch stilisierten Form. Blumen werden häufig zu schmückenden Mustern stilisiert. Der französische Maler Maurice Denis (1870 – 1943) verkörpert eine Sonderform des französischen Art nouveau. Er ging von der ebenmäßig ruhigen Stilisierung Paul Gauguins (1848 – 1903) aus, auf den er durch seinen Mitschüler Paul Sèrusier hingewiesen worden war. Die beiden Freunde schlossen sich mit Bonnard, Vuillard und Valloton zur Künstlergruppe der Nabis („Propheten“) zusammen, die anstelle der Forrnauflösung des Impressionismus eine Neue Kunst schaffen wollten, die würdigen Ernst und aus vereinfachten stilisierten Farbflächen zusammengesetzte Kompositionen zum Ziel hatte. Maurice Denis trat auch als Theoretiker dieser Bewegung hervor. Typisch für seinen Stil ist die Umreißung heller Flächen mit festen dunklen Umrisslinien. Auch ihm ging es um Stil und Stilisierung. 1895 und 1897 unternahm er mit Sarusier Studienreisen nach Italien, wo ihn die Kunst des Piero della Francesca und Fra Angelico besonders beeindruckten. Wie jene Renaissancemeister wollte er edel und formschön stilisierte Kompositionen schaffen, die weniger von äußerer als von innerer Bewegung beherrscht würden. Der geistigen Haltung nach stehen Denis und die Nabis dem Symbolismus, in einer christlich-mystischen Ausprägung nahe. Seine wie kostbare Einlegearbeit zusammengefügte Komposition von 1893 Les Muses (Die Musen) verdeutlicht die weihevolle Stimmung dieser Richtung. 1919 gründete Maurice Denis in Paris eigene Werkstätten für die kirchliche Kunst, die er erneuern wollte.
Eine andere, auf dekorative Stilisierung eingestellte Richtung des Art nouveau repräsentiert der wandlungsfähige tschechische Künstler Alfons Mucha (1860 – 1939). Er studierte in München und Wien sowie 1890 – 1894 an der berühmten Académie Julian in Paris. Er war ein virtuoser Zeichner und Entwerfer, der Gemälde und Fresken, Zeichnungen und Plakate sowie raffinierte Schmuckentwürfe für den Goldschmied G. Fouquet hervorbrachte. In Paris war seine hochdekorative Kunst im Neuen Stil, den er beherrschte, sehr beliebt. Er verkörperte in seiner Kunst das Frauenideal der Epochen in vorbildlicher Weise.. Die Frauen, die er stilisierte, sind überirdisch schöne Wesen, die an Feen und Prinzessinnen erinnern. Mucha nahm vieles auf, was damals „in der Luft lag“. Die Dichtung des Symbolismus verherrlichte solche fremden, schönen, hehren Wesen, aus den großen Epochen der Kunst war man ebenso an sie gewöhnt. Mucha konnte demnach großzügig in das unerschöpfliche Reportoire der romantischen und historischen Frauengestalten greifen, um sie modern einzukleiden.
Für Schmuckentwürfe, Theaterplakate und eine verführerische Werbung, die sich auf die Anziehungskraft weiblicher Reize verließ, war der Jugendstil außerordentlich geeignet. Kunstzeitschriften und edel ausgestattete Bücher verbreiteten ihn ebenso. Die Reklame steckte noch in ihren Anfängen und legte Wert auf künstlerische Einkleidung und Legitimation. Mucha verarbeitete die verschiedensten Vorbilder: die Strenge und den goldenen Prunk byzantinischer Mosaiken, die Reinheit östlicher Ikonen, Anklänge der italienischen Frührenaissance, Naturformen wie ranken und Blüten. Sein Kalenderblatt von 1896 warb für die Kunstzeitschrift La Plume (Die Feder). Mucha war ein Verehrer der französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt (1844 – 1923): Sie galt noch in fortgeschrittenem Alter als reinste Verkörperung der Ideale jener Epoche, da sie jugendlichen Charme mit der Kunst vornehmer Stilisierung verband. Nach Entwürfen von Mucha fertigte Georges Fouquet erlesene Schmuckstücke für die Diva an. Der Goldschmied René Lalique wurde durch sie ebenso zu Meisterwerken angeregt.
Die edle Stilisierung zur Lilienkönigin begegnet wieder bei dem Entwurf von Paul Berthon für die französische Zeitschrift L´Ermitage von 1897. Berthon nahm die glasfensterartige Stilisierung auf, die der bedeutende Entwerfer Eugène Grasset (1841 – 1917) entwickelt hatte, denn für Art nouveau und Jugendstil ist gerade die rasche Nachahmung und Verbreitung vorbildlicher Prägungen typisch. Die Formensprache und ornamentale Linearität des Jugendstils ließen sich leicht erlernen und nachahmen. Die bedeutendsten Entwürfe zeichnen sich durch meisterliche Konzentration und Präzision aus, die in den unzähligen Werken der Nachfolger zur gefälligen Routine wurden. Erwähnung verdient, dass Grasset sich auf den verschiedensten Gebieten des Kunstgewerbes betätigte. Er entwarf Teppiche, Stoffmuster, Glasgemälde, Mosaiken und wurde dadurch zum vielbeachteten Vorbild. Das kleinformatige Plakat (61 x 43 cm) von Berthon weist typische Charakterzüge des Stils auf. Die einem symbolistischen Theaterstück entschwebte Dame hat den träumerischen Ausdruck, der in der Zeit um 1900 immer wieder begegnet. Ihre Glieder sind langgestreckt, die Gebärden müde und entsagungsvoll. Sehnsucht ist das Leitmotiv dieser Stimmung. Lang flutendes Haar ähnelt den schweren Wolkenbändern des Himmels. Japanische Holzschnittkunst beeinflusste die feste Umreißung der Konturen genau so wie das Vorbild alter Glasmalerei. Schmückende Rahmenelemente wie gestickte Borten und geheimnisvolle Initialen wurden häufig verwendet. Der karge Kopfschmuck betont die zuchtvolle Entsagung, der Ring am Finger deutet auf Verlöbnis. Typisch für diese idealisierten Frauengestalten des Jugendstils ist ihre lyrische Grundstimmung. Sie träumen, hoffen, sehnen sich und entsagen, sind geheimnisvoll, rätselhaft, entrückt.
Der Belgier Henry van de Velde (1863 – 1957), der zu den führenden Künstlern des Jugendstils zählt, wählte in seiner Engelwache von 1893 ebenfalls ein Thema, das auf Geburt und Neubeginn hinweist. Das große, verheißungsvolle Motiv wird strenger Stilisierung unterworfen. Da der Künstler die Aufgabe der Schaffung einer neuen zeitgemäßen Kunst in einem langen schöpferischen Leben konsequent verfolgte, verdient seine Entwicklung besondere Beachtung. Er kam in Antwerpen zur Welt und studierte um 1884 bei E. A. Carolus-Duran in Paris Malerei. Er vertrat die Auffassung, die Kunst müsse dem Leben die stilvolle Inszenierung und den stilvollen Rahmen geben, „weil das Wesen aller Künste darin besteht: zu schmücken“. Dieser Aufgabe zuliebe wandte er sich umfassenden Studien zu. Das künstlerische Handwerk und die materialgerechte Verarbeitung erschienen ihm unabdingbare Voraussetzung künstlerischer Meisterleistungen. Er spezialisierte sich zunächst auf Typographie und Buchgestaltung sowie Möbelentwürfe. 1895 entwarf er für seine Familie das Haus Bloemenwerf in Uccle bei Brüssel. Tapisserie, wofür die Engelwache ein typisches Beispiel ist, interessierte ihn genauso. Er bevorzugte großflächige ornamentale Vereinfachung mit klarer Umreißung und leuchtenden Farben. Dieser Stil nahm Anregungen Gauguins und der Nabis auf. Der Künstler wurde auch dadurch bekannt, dass er die nach seinen Entwürfen ausgeführten Objekte auf zahlreichen, vielbesuchten Kunstgewerbeausstellungen zeigte.
Der deutsche Mäzen Karl Ernst Osthaus betraute 1902 den modernen Künstler mit dem Bau seines Privathauses in Hagen/Westfalen, und ebenso veranlasste er die Innenausstattung des Folkwang-Museums in Hagen durch ihn. Der geachtete Entwerfer wurde nach Weimar berufen, dessen Kunstgewerbeschule er von 1901 – 1914 leitete. Er war eng mit den Bestrebungen des deutschen Werkbundes verbunden, für den er 1914 das Werkbundtheater in Köln errichtete.
Die vielseitig anregende Tätigkeit van de Veldes wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. 1917 ließ er sich in der neutralen Schweiz nieder, doch waren in den Notzeiten nach dem Krieg die weiteren Voraussetzungen für eine elitäre und kostspielige Erneuerung der Künste und des Kunsthandwerks ungünstig. 1926 gründete van de Velde in Brüssel eine neue Kunstgewerbeschule, die er bis 1935 leitete. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde seine Bedeutung wieder anerkannt und gewürdigt.
Zu den charaktervollsten Persönlichkeiten unter den Malern des Neuen Stils gehört der Schweizer Ferdinand Hodler. Er wurde 1853 in Bern geboren und starb 1918 in Genf. Gelernt hat er bei einem Vedutenmaler und bildete sich seit 1871 in Genf bei dem Landschafter B. Menn weiter. Da ihn das theoretische Fundament der Kunst interessierte, befasste er sich mit den Schriften von Dürer, Leonardo und Vitruv. Er war darum bemüht, seinen Werken eine neue Gesetzmäßigkeit und charaktervollen Ausdruck zu verleihen. Seine Bemühung um lineare Stilisierung und lyrische Stimmung verbinden ihn mit dem Jugendstil, während seine Thematik auf den Symbolismus hinweist. In der Frühzeit war sein Stil realistisch und naturalistisch, um 1890 wandte er sich jedoch entschieden einer neuen Gestaltungsweise zu. Er vereinfachte die Komposition auf wenige, plastisch gestaltete Figuren und bemühte sich um allegorische Bedeutsamkeit. Die Linie wurde zum Ausdrucksträger dieser Kunst. Die expressiven Züge sind speziell bei Hodler ebenfalls deutlich. Der grüblerische Künstler vertiefte sich in mystische Vorstellungen; Hodler wandte sich der mystisch-katholischen Rosenkreuzerbewegung zu und strebte nach einer neuen Religiosität, die in andrer Weise auch bei den Nabis begegnet.
Im Jahr 1901 stellte Hodler zusammen mit Cuno Amiet seine neuen Bilder bei der Wiener Sezession aus. Aus jener Zeit der Auseinandersetzung mit Gustav Klimt und dem Wiener Sezessionsstil stammt auch sein Gemälde Der Frühling. Der Bildaufbau zeigt den energischen Willen zur klaren Verteilung der Gewichte und Körper. Hodler strebte nach einer neuen Grundsätzlichkeit. Dieses streng stilisierte „Frühlingserwachen“ wird durch den Jüngling und die Jungfrau symbolisiert.
Der Mann sitzt in gespannter Haltung in klassischer Nacktheit und schaut in die Ferne, das im Profil gesehene Mädchen blickt mit sehnsuchtsvoll verhaltener Gebärde zu ihm auf. Die geometrisch vereinfachten Landschaftselemente der Umgebung bilden die zarte Brücke und Verbindung.
Zu den führenden deutschen Jugendstilkünstlern gehörte Peter Behrens. Er wurde 1868 in Hamburg geboren und starb 1940 in Berlin. Seine erste Ausbildung erfuhr er als Maler, wandte sich dann jedoch kunstgewerblichen Entwürfen, typographischen Arbeiten und der Architektur zu. Sein Lithographie Der Kuss stammt aus dem Jahr 1897. Diese spezifisch deutsche Komposition weist einige typische Züge auf, so die Härte der Form, eine gewisse Schwerfälligkeit, Gedrungenheit, Gewichtigkeit, Würde, die vom französischen raffinierten, betont geschmackvollen und vergleichsweise frivolen Art nouveau beträchtlich abweicht. Die Neigung geht in ganz anderer Weise zum Ausdrucksvollen, Bedeutenden, Vorbildlichen, Grundsätzlichen. Die Unterschiede gehen über reine Äußerlichkeiten weit hinaus.
Beim internationalen Vergleich fällt das Schicksalhaft-Bedeutungsschwangere dieser deutschen, gewichtigen Ausprägung des Jugendstils auf, die eigenartig „teutonisch“ wirkt. In ihr ist die Tendenz zum Expressionismus und zu einer neuen, entschiedenen Grundsätzlichkeit unverkennbar stärker, als die zur unverbindlichen Heiterkeit des schmückenden Ornaments.
Der vielseitige Peter Behrens, der als Mitbegründer der Vereinigten Werkstätten in München Einfluss gewann, wurde 1900 an die Darmstädter Künstierkolonie berufen, wo er ebenfalls seine puristische Gesinnung durchsetzte. Als Architekt und künstlerischer Berater der AEG in Berlin dokumentierte er beispielhaft sein Vermögen, imposante Monumentalität mit zweckmäßiger Form zu verbinden, dadurch wurde sein Stil richtungsweisend.
Wie jeder ausgeprägte Stil, so beeinflussten Jugendstil und Art nouveau auch die Mode im weitesten Sinne. Paul Poiret war in Paris der berühmteste Modeschöpfer in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Er ließ sich durch die Kunst der Frührenaissance, des Empire und orientalischer Kulturen anregen und entwickelte daraus eine spezifische elegante Art-nouveau-Mode. Die Umrisse seiner langgestreckten Roben sind linienbetont, der Körper wird vom Zwang des Korsetts befreit. Die neuen Entwürfe wurden durch Modejournale und Zeitschriften rasch verbreitet. Der Ansatz zur sportlicheren Mode der Zwanzigerjahre, anstelle gravitätischer Repräsentation, liegt hier schon vor. Der Zeichner Georges Lepape (1887 – 1971) hat in seiner kolorierten Lithographie aus dem Jahr 1911 die neuesten Entwürfe Poirets jugendstilig wiedergegeben. Typisch sind Stolen, gestickte Borten, stilisierte Rosen.
Das graphische Ideal des genialen Engländers Aubrey Beardsley (1872 – 1898) wirkte in unterschiedlicher Weise lange nach. Er hatte 1894 Oskar Wildes Salome illustriert, und seine Illustrationen für die Zeitschrift The Yellow Book und The Savoy mit ihrer genialen Raffinesse und dekadenten Schönheit galten als unerreichtes Vorbild modischer Eleganz und bis ins letzte stilisierter Haltung. Der Ästhetizismus, die Forderung nach einem von edler Kunst und überirdischer Schönheit durchdrungenen Dasein gehörte ebenfalls zu den auffallenden Erscheinungen der Jahrhundertwende. Er wurde von Dichtern und Snobs, Mäzenen, Künstlern und Sammlern gepflegt und hatte seine Voraussetzung im Treibhausklima einer satten Zeit, die der Erste Weltkrieg schlagartig beendete. Eine interessante Erscheinung des englischen Jugendstils, der häufig auch Liberty Style genannt wird, weil das exklusive Londoner Einrichtungshaus Liberty um 1900 die erlesensten Art-nouveau-Objekte anbot, ist der 1868 in Glasgow geborene Schotte Charles Rennie Mackintosh. Er war Architekt und Entwerfer und gewann im Jahr 1896 den Wettbewerb für den Neubau der Kunstschule in Glasgow, die nach seinen Plänen ausgeführt wurde. Seine besondere Aufmerksamkeit galt der stilvollen Innenausstattung, für die sein Entwurf für eine Wanddekoration in Glasgows Buchanan Street ein treffliches Beispiel ist. Eine nach streng geometrischen Grundprinzipien konstruierte Rosenprinzessin wird in ein einziges kunstvolles Jugendstilornament verwandelt. Die Präzision haarscharfer Linien ergibt in Verbindung mit den sanft abgestimmten Frühlingsfarben einen kultivierten Effekt. Ch. R. Mackintosh gründete zusammen mit seiner Frau Margaret MacDonald, deren Schwester Frances sowie deren Mann, dem Architekten H. McNair die einflussreiche Gruppe The Four. Sie nahmen die britische Erneuerungsbewegung des Kunsthandwerks, Arts and Crafts, auf und entwarfen Möbel, Stoffe, Villen und Einrichtungen. Die englische Kunstzeitschrift The Studio vermittelte international die Anregungen des Art nouveau. Im Jahr 1900 veranstaltete die Wiener Sezession eine Ausstellung des neuartigen schottischen Jugendstils, die zahlreiche Künstler stark beeindruckte.
Ein Maler, der den Charakter des Jugendstils am reinsten verkörpert und dessen geschmackvolle Schönheit wie auch seine innere Gefährdung und seine Grenzen beispielhaft erkennen lässt, ist der Osterreicher Gustav Klimt. Seine drei monumentalen Deckenbilder für die Wiener Universität, 1900 – 1903, in denen Figürlich-Gegenständliches reich mit rein dekorativen Elementen verschmolzen, wurden heftig umstritten, da die konservative Mehrheit eine derartig kühne, ornamentale Abstraktion nicht hinnehmen wollte. 1905 erklärte der avantgardistische Künstler seinen Austritt aus der Sezession, deren Stil er vorbildlich verkörpert hatte. Er führte weiterhin Aufträge für fortschrittliche Kenner aus, die zu ihm hielten, bis der Erste Weltkrieg allem heiteren Spiel ein Ende bereitete. Der hoffnungsvolle Meister starb 1918 in Wien. Seine Komposition Der Kuss von 1909 kleidet das verführerische Motiv in den Mantel märchenhafter Dekoration im typisch kleinteilig-geometrischen Sezessionsstil Alles Gefühl verwandelt sich in bezaubernd geschmackvolles Ornament. Ein Stil und eine Epoche hatten ihren Höhepunkt erreicht.