Ornamentale Schönheit
Nur wenige Architekten verwirklichten die neuen Tendenzen des Jugendstils mit letzter Konsequenz. In vielen Fällen begnügten sie sich damit, ihre mehr oder minder zweckmäßigen Bauwerke rein äußerlich durch JugendstiI-Ornamente zu bereichern. In zahlreichen Großstädten Europas treffen wir noch solche Jugendstil-Bauwerke an, meist repräsentative Villen und Wohnhäuser des wohlhabenden Bürgertums. Dem Jugendstil haftet häufig etwas Elitäres an, denn diese von rein künstlerischen Bestrebungen getragene Reformbewegung hatte in erster Linie nicht eine Kunst für die Massen im Sinn, sondern für eine Minderheit, die reichlich Vermögen, Geschmack und Stil besaß.
Zu den bedeutendsten Architekten der neuen Kunst gehört der Katalane Antonio Gaudi (1852-1926). Er war hauptsächlich in Barcelona tätig, wo es um 1900 eine aufgeschlossene Oberschicht gab, die dem Künstler Aufträge gab. Er stammte aus einer Familie von Kunsthandwerkern und hatte außerordentlichen Sinn für die anschauliche Idee und genau so für das handwerkliche Detail. Seine Bauwerke haben den Charakter des lebendigen, vom Künstler nach eigenen Gesetzen geschaffenen Organismus. Gaudi ist einer der wenigen Jugendstilkünstler, dessen Werke völlig von dem neuen Stil durchdrungen und nicht nur äußerlich dekoriert sind. Eine neuartige Dynamik formte Grundrisse, Fassaden, Aufgänge, Dächer. Gaudi erwies sein Können und seinen genialen Einfallsreichtum an Wohnhäusern wie der 1904-1906 in Barcelona errichteten Casa Battló, doch ebenso an der architektonischen Gestaltung einer großen Parkanlage, Park Güell in Barcelona und der monumentalen, unvollendeten Kathedrale Sagrada Familia. Als modernes „Gesamtkunstwerk“ verdient ebenso seine Casa Milá von 1905-1910 Erwähnung.
Paris war um 1900 die führende Hauptstadt der Kunst in Europa. Es gab dort sowohl zahlreiche Künstler und Kunsthandwerker, die sich um die Gestaltung eines neuen, charaktervollen Stils bemühten, als auch ebenso eine aufgeschlossene Gesellschaft, die an geistreichen Neuerungen interessiert war und sie herausforderte. Man war Experimenten nicht abgeneigt und glaubte an den Fortschritt, der sich in einer Neuen Kunst offenbaren müsse. Die Mode änderte sich und mit ihr der Stil. Man war von der Dynamik fasziniert, von Eleganz und Sport von den neuen Materialien und einem Dasein in Schönheit. Der neue Stil, Art nouveau, sollte dieses neue Lebensgefühl zum Ausdruck bringen. Weltausstellungen machten mit den neuesten Trends bekannt und forderten zum Vergleich heraus. Erlaubt war, was gefiel und was auffiel, soweit es im Rahmen des „guten Geschmacks“ blieb. In Paris wurden um 1900 zahlreiche Wohnhäuser und Villen, Restaurants, Theater, Bahnhöfe, Festsäle, Geschäfte in dem neuen Stil dekoriert, wobei die florale Richtung überwog.
Das technische Wunder der Untergrundbahn von Paris, Metro genannt, wurde durch künstlerisch gestaltete Art-nouveau-Eingänge geschmückt. Der einfallsreiche Architekt Héctor Guimard (1867-1942) lieferte die Entwürfe. Seine zwischen 1899 und 1913 erbauten Metroeingänge aus Gusseisen wirken wie bizarre Baldachine. Das Material ist flüssig geformt, pflanzliche, gespannte, federnde Linien tragen und überschneiden sich, verkünden die Botschaft des neuen Stils und einer neuen Zeit. Der Jugendstil schätzt die Verwendung neuartiger Materialien wie Eisen und Glas, die zu überraschenden Effekten kombiniert werden.
Der Impressionismus hatte den Weg zur Beachtung der Oberflächen und der momentanen und wechselnden Eindrücke gebahnt. Die Augen der Kenner waren dadurch darauf vorbereitet, den neuen Stil als interessant und Faszinierend zu empfinden.
In Belgien war Victor Horta (1861 -1947) der führende Art-nouveau-Architekt. Er ging in seiner Baukunst von den Errungenschaften der französischen Ingenieure und Konstrukteure seiner Zeit aus, bereicherte sie jedoch durch neuartige, florale Ornamentformen. Die Vorstellung, dass die Gesellschaft des Industriezeitalters neue, einfallsreiche Bauformen und Konstruktionen benötigte, war bereits, ohne dekorative Verbrämung, durch riesige Stahlkonstruktionen wie den Londoner Kristallpalast von 1851 oder den Pariser Eiffelturm von 1889 verwirklicht worden. Architekten wie Horta waren entschlossen, die neuartige Konstruktionsweise jetzt auch in einem neuartigen Stil auszuführen. Die Verbindung von Glas und Eisen schien dafür besonders geeignet.
Paul Hankar (1861-1901) ging ebenfalls von dem neuen Stil Hortas aus und errichtete in Belgien zahlreiche moderne Wohnhäuser, die durch ausgewogene Gliederung, Zweckmäßigkeit und den bis ins letzte Detail durchgefeilten Art-nouveau-Dekor bestechen.
Am eindrucksvollsten und geschlossensten äußerte sich der Jugendstil häufig auf dem Gebiet der Innenarchitektur und Raumausstattung. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte mit staatlicher Förderung in allen Ländern Europas das Kunstgewerbe einen enormen Aufschwung genommen Kunstgewerbeschulen und -Museen wurden gegründet, überall wurde die Forderung nach einem neuen, qualitätsvollen Kunsthandwerk erhoben, das auch im Industriezeitalter konkurrenzfähig sein sollte. England war führend in dieser Reformbewegung – Arts and Crafts -, die sich mit dem Namen William Morris (1834-1896) umschreiben lässt. Dieser Reformer des Kunstgewerbes ging von den Bestrebungen der englischen Präraffaeliten aus, einen modernen Stil zu schaffen, der zu einer stilvollen Erneuerung unserer Kultur führen sollte. Morris glaubte, dass die Erneuerung der Kunst nur dann zustande kommen könne, wenn die Handwerker das Material in der bestmöglichen Technik und Qualität bearbeiteten. Er gründete daher eigene Werkstätten.
In Frankreich hatte die Schule von Nancy (Ecole de Nancy) großen Einfluss auf dem Gebiet der Neuen Kunst (Art nouveau). Der Entwerfer Emile Gallé (1846-1904) spielte hier die führende Rolle. Er stammte aus einer traditionsreichen Kunsthandwerkerfamilie und erweiterte seit 1874 seine Werkstätten, in denen Glasvasen, Möbel und Schmuck im neuen Stil ausgeführt wurden. Der Dekor seiner Art-nouveau-Objekte ist pflanzlich, gehört also dem floralen Jugendstil an. Die Tendenz, ein gesamtes künstlerisches Ensemble im neuen Stil zu gestalten, ließ sich am einheitlichsten in der Innenarchitektur und -dekoration verwirklichen. Ein Speisezimmer aus der Zeit um 1903 – 1905 nach Entwürfen des Architekten Eugène Vallin aus Nancy ist dafür ein typisches Beispiel: Alle Formen der Möbel und Wanddekorationen, einschließlich der Lampen, Vorhänge und Ziergefäße sind in den schwingenden ornamentalen Formen des Art nouveau gestaltet.
Wien, die kaiserliche Hauptstadt des Habsburgerreichs, gehörte zu den Führenden Zentren der Neuen Kunst, die hier als Sezessionsstil bezeichnet wurde. Mehrere Architekten gehörten dieser fortschrittlichen Richtung an, die sich entschlossen von der Stilnachahmung des Historismus befreite. Otto Wagner ist hier an erster Stelle zu nennen. Er kam 1841 in Wien zur Welt, das zum Zentrum seines Schaffens wurde. Aufschlussreich ist, dass er sich in seinen frühen Entwürfen am Vorbild der kühlen Florentiner Frührenaissance orientierte. Aus dem Streben nach einer neuen, zweckmäßigen und formschönen Baukunst entwickelte er dann einen streng geometrischen Stil, ohne jedoch völlig auf schmückende Rahmenornamente zu verzichten. Darin erwies er sich als bedeutender Jugendstilkünstler. Er war von 1894 bis 1916 Professor an der Architekturschule der Wiener Akademie, wodurch er als Lehrer großen Einfluss gewann, u. a. auf Adolf Loos, Josef Hoffmann und Josef Maria Olbrich. Otto Wagner bevorzugte Stahl und Glas für seine Konstruktionen, und stellte damit eine Verbindung zur Baukunst der Konstrukteure und Ingenieure her. Im Jahr 1893 erhielt er den Ersten Preis für den Generalregulierungsplan von Wien, da die Aufgabe einer städtebaulichen Modernisierung der alten Kaiserstadt vordringlich war. Von diesem großzügigen Projekt wurden hauptsächlich die architektonischen Anlagen der Wiener Stadtbahn zwischen 1894 und 1901 ausgeführt. Seine Station Karlsplatz: z.B. zeigt in ihrer Fassade die vornehm zurückhaltende geometrische Gliederung, die für Otto Wagner und den Sezessionsstil typisch ist. Eine charmante Note bringt das girlandenartig bekrönende Rahmenornament hinzu. Dadurch wird der Eindruck nüchterner, zweckmäßiger Reißbrettarchitektur vermieden und das Bauwerk in einer für den Stil typischen Weise dynamisch belebt. Stilvolle Festlichkeit und leichte Heiterkeit sind qualitätsvolle Merkmale dieses Stils. Ein bekanntes Bauwerk Otto Wagners ist ferner sein Postsparkassenamt in Wien von 1904-1906. In der Kassenhalle aus Stahl und Glas verzichtete der Baumeister weitgehend auf ornamentale Zutat; Konstruktion und Material sollen für sich selbst sprechen.
Die Tendenz zu einer modernen Baukunst, die vollends auf ornamentalen Schmuck verzichtet und die äußerliche Verbrämung gar als „Verbrechen“ erklärt, nahm dann der österreichische Architekt Adolf Loos (1870 – 1933) energisch und zu seiner Zeit heftig umstritten auf. Er forderte und verwirklichte Sachlichkeit in der Baukunst. Josef Hoffmann (1870-1956) dagegen, ein Mitbegründer der Wiener Sezession und der bedeutenden Wiener Werkstätte (1903) entwickelte einen nahezu manierierten, eleganten und kühlen Baustil, der geometrische Strenge und den Reiz kostbarer Materialien zu betonter Regelmäßigkeit vereinte. Berühmt ist sein Palais Stoclet in Brüssel aus den Jahren 1905-1911, das sich ein reicher Mäzen erbauen ließ. In den typischsten und qualitätsvollsten Meisterwerken des Jugendstils tritt immer wieder der elitäre Zug hervor: es handelt sich um eine Kunst für Kenner.
Der Jugendstil hat eine ausgesprochen musikalische Komponente, und daher liegen. die musikalischen Assoziationen bei seiner Betrachtung nahe: er schätzt Harmonie, sanfte Töne, Stimmung. Im kleinen, überschaubaren Format, in intimen Innenräumen kommt diese „Kammermusik“ am besten zur Geltung. Das meisterlich abgestimmte Treppenhaus in einer Villa in Hinterbrühl bei Wien, das der Otto-Wagner-Schüler Josef Maria Olbrich um 1900 entwarf, ist ein treffliches Beispiel.
Der Jugendstil strebt nicht nach naturalistischer oder realistischer Nachahmung, sondern in allem nach „Stil“. Das Banale und Alltägliche ist ihm verhasst, er fordert den stilvollen Rahmen und das krönende Ornament.
Für jene Gesellschaftsschicht aus altem Adel und selbstbewusstem Bürgertum, die dann durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen ihr Vermögen und ihr Ansehen verlor, war der Jugendstil eine ideale Möglichkeit, den eigenen Rang und das eigene Selbstverständnis geschmackvoll zu dokumentieren. Die gewisse weltferne Künstlichkeit, Märchenhaftigkeit, Idealität, die diesem Stil innewohnt, eignete sich vortrefflich zur Anlage vornehmer Villen und Häuser in Stadt und Land. Das englische Ideal stilvollen adeligen Landlebens wurde erneut, jetzt ohne klassizistische Einkleidung, verwirklicht.
Josef Maria Olbrich (1867-1908), der uns schon in Wien begegnete und dort 1898 zu den Begründern der Sezession gehörte, wurde im Jahr 1899 als Professor an die Darmstädter Künstlerkolonie berufen. Ernst Ludwig, Großherzog von Hessen, hatte beschlossen aus seiner Landeshauptstadt ein führendes europäisches Zentrum der modernen Kunst und des zeitgemäßen Bauens zu machen. Zahlreiche Künstler und Kunsthandwerker wurden berufen, Werkstätten eingerichtet und Aufträge erteilt. Bis zu seinem frühen Tod hatte Olbrich bestimmenden Einfluss. Ein kleinerer, bis ins letzte durchgefeilter und überschaubarer Entwurf wie das fürstliche Prinzessinnenhaus im Park von Schloss Wolfsgarten bei Langen, das der Großherzog 1902 für seine Töchter errichten ließ, zeigt modellhaft, welchen Weg der Wiener Sezessionskünstler für richtig hielt: Der Baukörper ist klar gegliedert, die Räume sind hell und übersichtlich, die Außengliederung erfolgt nach geometrischen Prinzipien. Einem festen Baukörper entspricht ein beschützendes Dach Das Spielzeughafte, Jugendliche, Naive, Freundliche, Wohnliche sind für den Stil typisch. Die Nähe zur Natur wird gesucht. Die Kunst verheißt den Menschen ein neues Dasein in paradiesischer Schönheit und Reinheit. Die Neue Kunst legte größten Wert auf handwerklich meisterliche Auswahl und Verarbeitung des Materials.
Ein Anliegen der führenden Jugendstilkünstler war es, gerade dem scheinbar Alltäglichen und Gewohnten neue Würde und Schönheit zu geben. Damit reihten sie sich in die große geistige Bewegung der Lebensreform ein, die für jene Epoche so wichtig war, und die vom Bauen und Wohnen, bis zur Einrichtung und Mode das gesamte Leben erneuern und bessern wollte. Ihre geistigen Parallelen hat diese Bewegung in den verschiedensten weltanschaulichen und religiösen Erneuerungsversuchen der Zeit.
Während der Jugendstil als hohen Wert die Schönheit – des Lebens und der Kunst – empfindet, geht es vergleichsweise dem Expressionismus vielmehr um Wahrheit. Der Jugendstil möchte das in Fülle Vorhandene stilisieren, der Expressionismus deckt auf und klagt an, er will nicht Verklärung und Bestätigung, sondern eine neue Welt durch Veränderung und Revolution. Beide Richtungen, die auf ornamentale Schönheit bedachte und die wahren Ausdruck fordernde bestanden gleichberechtigt nebeneinander zu Beginn unseres Jahrhunderts.
Im Lauf seiner Entwicklung neigte J. M. Olbrich zu immer entschiedeneren, expressiv vereinfachten Formen, wofür der Hochzeitsturm ein reifes Beispiel ist. Dieses weithin sichtbare Wahrzeichen der Darmstädter Künstlerkolonie, das zwischen 1905 und 1908 ausgeführt wurde, weist eine beabsichtigte Monumentalisierung auf. Elemente der Tradition des Wiener Sezessionsstils wie die geometrisch-kleinteilig gegliederten Fenster, sind hier einer expressiv vereinfachten Regelmäßigkeit untergeordnet. Das Aufsteigen des von symmetrisch angeordneten Rundformen bekrönten Turmes erinnert nur noch von Ferne an ein Kronen-, Girlanden-, oder Fontänenmotiv, wie es der Schmuckfreude des Jugendstils entsprach und ist einem neuen „stählernen“ Ernst gewichen. Die Zeichenhaftigkeit einer solchen in den Himmel erhobenen „Schwurhand“ deutet bereits auf die Wendung zum Expressionismus, anstelle der bisherigen verspielten Unverbindlichkeit hin. Ein früher Tod unterbrach die aufschlussreiche Entwicklung des bedeutenden Künstlers. Bereits an dem zwischen 1899 und 1901 in Darmstadt erbauten Ernst-Ludwig-Haus machte sich Olbrichs Neigung zu ernster Würde und kultischer Feierlichkeit bemerkbar, Züge die in der Kunst des deutschen Jugendstils, anstelle der französischen Leichtigkeit, immer stärker hervortraten.
Die kultische Tempelhaftigkeit eines solchen Ausstellungsgebäudes wird durch den Eingang begleitenden. Dekor betont: Zwei spitze, dünne stilisierte Schirmpinien bewachen fast drohend den Zugang. Das Portal ist geometrisch-puristisch vereinfacht, das Bogenfeld bedeckt kreisförmig schwebendes und steigendes Rundornament, ein schwerer, schlichter Rundbogenbaldachin überfängt den Bereich. Ernste, bedeutungsvolle kolossale Wächter-Figuren mahnen zur Sammlung. Ludwig Habich (1872-1949), Bildhauer und Professor in Darmstadt schuf diese Symbolfiguren Mann und Weib. In spezifischer Weise wird hier die Wendung zu einer expressiven Ausdruckskunst vollzogen. Während auch das deutsche Kunstgewerbe eine unerschöpfliche Fülle „verspielter“ Jugendstilobjekte hervorbrachte, die vom bezaubernden Ornament dieses Stils belebt sind, lag bei allen formatmäßig größeren Aufgaben die Monumentalisierung im Hinblick auf Ausdrucks- und Bedeutungssteigerung nahe.